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Interview I Börsen-Kurier I Mai 2024

Bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit

Alois Wögerbauer, Geschäftsführer und Fondsmanager: Die Formulierung „laut Lehrbuch“ muss man, überspitzt formuliert, vorerst aus dem Wortschatz streichen. Weniges hat zuletzt „laut Lehrbuch“ funktioniert. Andererseits macht genau das die Faszination der Finanzmärkte aus.
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Die Praxis hält sich sehr oft nicht an die Theorie. Hätte vor drei Jahren jemand gesagt, dass die US-Zinsen von knapp über Null in nur 16 Monaten auf über 5 % erhöht werden und um eine Prognose für Wirtschaft und Börse gebeten, dann wären wohl gänzlich andere Zahlen geschätzt worden, als dann eingetreten sind. Zudem hätten wir diesen Zinsanstieg grundsätzlich für nicht möglich gehalten. Auch ich wäre Teil dieses kollektiven Irrtums gewesen. Zum Zeitpunkt der ersten US-Zinserhöhung im März 2022 lag das US-Wirtschaftswachstum bei etwa 2,5 %. Beachtliche elf Zinsschritte später liegt es bei 2,7 %. Aus der Erwartung einer Rezession, also eines „hard landing“, wurde ein „soft landing“ und nunmehr ein „no landing“. Die US-Arbeitslosenrate lag zu Beginn der Zinswende bei 3,8 %, so wie auch aktuell. Der breite US-Aktienmarkt steht nach elf Zinsschritten um etwa 15 % höher und die Unternehmensgewinne sind um über 10 % gestiegen. So viel zu Theorie und Praxis. Die Kombination aus robustem Konsum, hohen Staatsausgaben, hohen unternehmerischen Investitionen und einer Demografie, die auch den US-Arbeitsmarkt verändert, führt dazu, dass die US-Notenbank keinen Druck hat, die Zinsen zu senken - sie kann, aber sie muss nicht. Erste Senkungen geringer Dimension werden nunmehr erst für den Herbst erwartet, wenn überhaupt. Dass sich im Umfeld von Renditen im Bereich von 4,6 % bei 10-jährigen US-Staatsanleihen der Aktienmarkt mit einer durchschnittlichen Dividendenrendite von 1,4 % so gut hält, bleibt beachtlich. Damit  wird die EZB, ob sie will oder nicht, einen eigenen Weg finden müssen. Obwohl der Euro-Leitzins nominell unter dem Niveau des US-Leitzinses liegt, ist er in Wahrheit angesichts der Wirtschaftszahlen wesentlichen aggressiver und wachstumshemmender als jener in den USA. Aus unserer Sicht wären drei Zinssenkungen zu je 0,25 % bis Jahresende angebracht, beginnend noch vor dem Sommer.

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